Kirschenzeit
- Lesezeit 7 Minuten - 1378 WörterIn der vergangenen Woche haben wir im Café Kirschkuchen gegessen. Ja, es ist wieder Kirschenzeit, an den Bäumen hängen die Süßkirschen1 und laden dazu ein, als Ohrhänger getragen zu werden.
Aber mir geht es hier und heute weniger um das Obst. Es geht um die Liebe, auch um die zur Freiheit – und um das trotzig verliebte *Und doch …"
Und es geht um Tote an Mauern, die kleine rote Blutkirschen auf ihren weißen Hemden tragen.
Nach Pfingstsonntag 1871 kann es keinen Frieden und keine Waffenruhe mehr geben zwischen den Arbeitern Frankreichs und den Aneignern ihrer Arbeitserzeugnisse2.
Damit meinte Marx die Erschießung von 147 Kommunarden an der Mur des Fédérés, der südlichen Mauer des Cimetière du Père-Lachaise, mit der die Pariser Kommune am 28. Mai 1871, dem Pfingstsonntag des Jahres, blutig endete.
Aber endete sie wirklich?
Die Kirschen der Freiheit
… ein dunkler, schmutziger Frühlingstag, an dem sie Menschen in langen Reihen die Leonrodstraße in München entlangführten, in Richtung auf das Oberwiesenfeld zu, um sie in den weiten Höfen, vor den Garagenwänden des ›Kraftverkehr Bayern‹ zu erschießen.3
Die Parallele zur Mur des Fédérés am Pfingstsonntag 1871 ist kaum zu übersehen, und ich glaube nicht, daß sie zufällig am Ende der Münchener Räterepublik steht, wenn ich auch keine Hinweise habe, daß Andersch beim Schreiben seiner Kirschen die Parallelen sah.
Sebastian Haffner kommentierte das obige Marx-Zitat so:
… dieses furchtbare Wort hat schneidend durch die Jahrzehnte getönt; und 1917 ist es vollstreckt worden.4
Natürlich bezog er sich mit „1917” auf die Russische, die Oktober-Revolution.
Und hat nicht diese wiederum zurückgewirkt? War nicht die besonders blutige Niederschlagung der Räterepublik 1919 in München um so vieles heftiger, genau weil Lenins Revolution in den Räten mitschwang?
Und weil die Reaktion, die Konterrevolution, weil die Bourgeosie, die Aneigner der Arbeitserzeugnisse einen weiteren Erfolg des Proletariats um jeden Preis vermeiden wollten?
Noch einmal Sebastian Haffner:
Die Kommune war zwar nicht die Keimform der Sowjetmacht, aber ihr Kampf war das Vorbild und ihr furchtbares Schicksal nach der Niederlage das warnende Beispiel. »Blickt auf die Pariser Kommunarden und ihr wißt, was euch bevorsteht, wenn wir besiegt werden!« rief Lenin der Roten Armee in den düstersten Augenblicken zu.5
Ist es zu sehr an den Haaren herbeigezogen, den Konterrevolutionären 1919 einen ähnlichen Gedanken zu unterstellen? Etwas wie „Blickt nach Rußland, nach St. Petersburg, ihr wißt, was euch bevorsteht, wenn wir diese Räte siegen lassen!”
Es erforderte lange und intensive Studien, herausfinden zu wollen, ob die Pariser Commune tatsächlich intentional ein Vorläufer der Oktoberrevolution von 1917 war oder doch eher ein bourgeoises Unterfangen, dessen inhaltlichen Forderungen und Veränderungen längst Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft geworden sind.6
Ich will mich dieser Frage hier und jetzt gar nicht stellen. Übrigens bin ich vermutlich nicht qualifiziert, sie zu beantworten.
Die Wirkungsmacht historischer Ereignisse liegt meines Erachtens ohnehin nicht in dem, was Historiker Jahrzehnte, Jahrhunderte später als vermeintlich objektive Wahrheit identifizieren. Sie beruht nahezu vollständig auf den Interpretationen und Re-Interpretationen der unmittelbaren Nachwelt und den Tradierungen derselben.
Das gilt auch für die Commune.
Noch ein letztes Mal Sebastian Haffner:
Die »Mauer der Föderierten« auf dem Friedhof Père Lachaise […] ist heute ein Wallfahrtsort der französischen Linken …7
Die Wirkungsmacht der Commune als Symbol ist wohl unbezweifelbar. Sie ist — von mir aus, Sebastian Haffner, hauptsächlich bei den Linken — ein nachwirkendes Symbol dafür, wie es möglich ist, von unten eine Stadt, einen Staat zu übernehmen.
Aber auch dafür, wie gefährlich es für alle Beteiligten ist, wenn die konterrevolutionäre Gewalt, das Imperium, zurückschlägt – in diesem Fall die Erben des Second Empire.
All das mag eine Legende sein, aber es ist eine lebende Legende. In Frankreich ist die Wirkung der Commune natürlich stärker verankert als Deutschland.
Natürlich wäre hingegen, nach meiner nicht allzu bescheidenen Meinung, wenn das Gedenken an die Münchener Räterepublik von 1919 in Deutschland einen ähnlich hohen Stellenwert hätte.
Ich denke nicht, daß es das hat.
Musik
Dem Ende der Commune, der Blutwoche, widmete Jean Baptiste Clément 1871 sein Lied La Semaine sanglante.
Bekannter aber ist ein anderes Chanson, Le temps des cerises (Die Zeit der Kirschen), das immer in einen Zusammenhang mit der Commune gebracht wird, obwohl es fünf Jahre vor der Blutwoche entstand und offenbar ein Liebeslied ist.
Wie konnte dieses scheinbar harmlose Liebeslied der 1860er-Jahre zu einem Symbol der Commune werden? Nur ein paar Gedankensplitter will ich dazu notieren:
- Der Text ist unpräzise genug, um mehrere Deutungen zuzulassen
- Rote Kirschen — Blutflecken auf den Hemden der Erschossenen
- Die offene Wunde der gescheiterten Liebe kann auch genauso die der gescheiterten Revolution sein
- Andere Deutungen der plaie ouverte liegen bei Erschießungen offen zutage
- Die Blutwoche lag in der Kirschenzeit,
Einiges davon und mehr findet sich in der französischen Wikipedia.
Übrigens versah Clement – nach der Blutwoche – das Lied mit einer Widmung:
À la vaillante citoyenne Louise, l’ambulancière de la rue de la Fontaine-au-Roi, le dimanche 28 mai 1871.
Von dieser citoyenne Louise wisse er auch nicht mehr als daß sie eine Arbeiterin war und als Krankenschwester an den Barrikaden tätig gewesen war.
Natürlich sind dies alles Umdeutungen post factum. Auch die Widmung wurde Jahre nach der Entstehung des Chansons hinzugefügt. Aber dieser Interpretationen und Re-Interpretationen wurden angenommen, zunächst von den Zeitgenossen, aber auch weiterhin tradiert.
Die „offene Wunde” kehrte in Frankreich auch später wieder, z. B. im Konflikt zwischen dem Vichy-Regime und der Résistance.
Hierzu doch noch einmal Sebastian Haffner:
Doch gerade der Zweite Weltkrieg hat die alte Wunde wieder aufgerissen: Die »Rechte«, das wohlhabende Besitzbürgertum, stellte 1940 die »Kollaborateure« wie 1871 die »Kapitulanten«; und der nationale Widerstand war wiederum die Sache der »Linken«, der Proletarier und der Intellektuellen.8
Eine plaie ouverte verheilt nie so ganz.9 Immer wieder wird die „Kirschenzeit” auch in Zusammenhang mit anderen blutig erschlagenen Hoffnungen gebracht, mit anderen offenen Wunden.
Nur ein Beispiel dazu:
Yves Montand sang das Lied am 12. Februar 1974 im Pariser Olympia bei einer Solidaritätsveranstaltung für chilenische Flüchtlinge nach der blutigen Beendigung der Allende-Hoffnungen durch den faschistischen Militärputsch, den wir mit dem Namen Pinochet verbinden.
Diese Aufführung können wir uns jetzt anhören und ansehen. Zur besseren Mitverfolgung habe ich auch den Text und die Noten bereitgestellt:
PS: Ich wollte diesen Text eigentlich (ursprünglich) bereits am 28. Mai zum Jahrestag der Massenerschießung an der Mauer des Père-Lachaise veröffentlichen, aber Dinge verzögerten sich, andere kamen dazwischen — so daß am Ende der Jahrestag ohne eine Chance der Publikation verstrich.10
Nun, damals war es ein Pfingstsonntag. Sei es jetzt eben auch einer.
Alfred Andersch fand seine Kirschen der Freiheit in Italien, nachdem er desertiert war: „In der Mulde des jenseitigen Talhangs fand ich einen wilden Kirschbaum, an dem die reifen Früchte glasig und hellrot hingen. […] Mir gehört die Zeit, solange ich diese Kirschen esse. Ich taufte meine Kirschen: ciliege diserte, die verlassenen Kirschen, die Deserteurs-Kirschen, die wilden Wüstenkirschen meiner Freiheit. Ich aß ein paar Hände voll. Sie schmeckten frisch und herb.”11
Möget ihr die Kirschen eurer Freiheit auch finden.
J’aimerai toujours le temps des cerises
Et le souvenir que je garde au cœur.
Last but not least: Das Copyright des Fotos am Kopf dieser Seite
Inhaber des Copyrights: Luke Jones Lizenz: CC BY 2.0 Ich habe das Bild via: Wikimedia bzw Im Rahmen der Lizenz bin ich übrigens verpflichtet, euch darauf hinzuweisen, daß ich keine Veränderungen an dem Bild vorgenommen sondern lediglich den Dateinamen geändert habe.
Die in des Nachbars Garten sollen ja die süßesten und besten sein. ↩︎
Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Association, in: Marx Engels Werke, Band 17, Berlin (Dietz) 1962, S. 361 ↩︎
Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit (1952), erster Absatz des Buches ↩︎
Sebastian Haffner, Die Pariser Kommune in: Historische Variationen, München (dtv) 2003, S. 133 ↩︎
Haffner ebda, S. 134 ↩︎
„So sehr hat sich in einem Jahrhundert auch in Frankreich das Blatt gewendet - einem Frankreich, in dem die bürgerliche Republik sich längst viele Gesetzgebungsakte der Kommune stillschweigend zu eigen gemacht hat.” Haffner, ebda, S. 131 ↩︎
Haffner, ebda, S. 131 ↩︎
Haffner, ebda, S. 131 ↩︎
Oder wie es in einem Chanson von Jacques Brel heißt: „On n’oublie rien de rien / On n’oublie rien du tout / On n’oublie rien de rien / On s’habitue – c’est tout.” ↩︎
In den unsterblichen Worten John Lennons: „Life is what happens to you / While you’re busy making other plans.” ↩︎
Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit (1952), letzter Absatz des Buches ↩︎